Ich wollte jeden Moment ganz bewusst aufsaugen, jede Sekunde genießen und ganz fest abspeichern, konservieren und davon zehren. Ich wollte Finger zählen und Zehen, meine Nase in den Flaum auf seinem Köpfchen vergraben und seinen süßen Babyduft aufsaugen. Nichts tun außer schlafen, stillen, wickeln und kuscheln.
Tatsächlich funktionierte das in den ersten vier Wochen auch fast wunderbar, mein Mann (thihihi, das klingt auch nach vier Jahren immer noch irgendwie seltsam, so erwachsen und so), also mein Mann hatte jedenfalls Elternzeit und konnte sich um den Großen kümmern und ich konnte mich von der Geburt erholen und ausruhen. Nur die Sache mit dem Stillen wollte irgendwie nicht in Gang kommen. Zwar waren wir inzwischen immerhin weg von der Pumpe, aber so richtig wollte das alles nicht klappen. Es gelang ihm einfach nicht, richtig „zuzuschnappen“ und ein Vakuum aufzubauen.
Nach etwa fünf Wochen ging es dann los. Mein bis dahin sehr friedliches Baby glich mehr und mehr einem meckernden Flitzebogen, Statt sich in meine Arme zu kuscheln bog er sich nach hinten durch. Egal ob beim Stillen, Tragen oder Liegen, er drehte sich ins Hohlkreuz und war unglaublich unruhig. Wenn er schlief, sah das keinesfalls entspannt aus, er lag in der sogenannten C-Haltung, das Gesicht immer nur zur einen Seite und ganz nach oben gewendet, und er zappelte. Er konnte überhaupt nicht still liegen, die Arme bewegten sich unaufhörlich – auch nachts. Wir fingen an, ihn nicht mehr im Schlafsack schlafen zu lassen, sondern zu pucken, das brachte wenigstens ein paar kleine Stunden Ruhe. Bis er sich durch sein andauerndes Bewegen selbst freigestrampelt hatte und der Spaß von vorne losging. Dabei war Körperkontakt Bedingung. Beistellbettchen? Gute Idee, funktionierte nur leider nicht. Denn auch, wenn er noch so verdreht war, am besten schlief er noch, wenn er ganz eng an mich gepresst war, in meinem Arm oder wenigstens an meiner Seite. Sehr erholsam…
Und auch die Tage wurden unruhiger. Hatte er in den ersten drei, vier Wochen auch ohne Weiteres mal allein geschlafen, ließ er sich nun kaum noch ablegen. Ruhig mit ihm irgendwo sitzen? War nicht mehr drin. Er weinte viel und für uns begann eine Zeit, in der wir fast rund um die Uhr tigerten, schuckelten, hüpften und wackelten. Wäsche waschen oder legen? Kochen? Essen? Spielen oder dem Großen Bücher vorlesen? Wenn überhaupt, dann nur im Hopserlauf. Und auch einhändig aufs Klo gehen ist hier inzwischen überhaupt kein Problem mehr. Übung macht den Meister…


Wir fragten uns, ob das beim Großen auch so war. Aber schnell war klar, nein, lange nicht, das hier ist etwas anderes. Der Begriff „Schreibaby“ fiel zum ersten Mal. Schreibabys, das sind laut Definition (oh man, wie sich das schon anhört, „Babydefinition“) Kinder, die über einen Zeitraum von drei Wochen an mindestens drei Tagen pro Woche mehr als drei Stunden schreien. Anfangs weigerten wir uns noch, das zu glauben. Waren es drei Stunden,? Wie lange und oft weinte er denn überhaupt? Und an drei Tagen? Waren das nicht mehr?
Wir fingen an, ein Protokoll zu führen und relativ schnell war klar, das hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Als er acht Wochen war, gab es nur noch zwei Zustände – er schlief oder er schrie. Ersteres funktionierte ja nicht so besonders gut, also schrie er viel. Ich weiß, schreien ist ein hartes Wort, aber weinen trifft es einfach nicht. Andere Babys weinen, meins schrie. Andere Babys hörten auch wieder auf, meins nicht. Wenn überhaupt, ließ sich nur noch von mir beruhigen, ich war seine sichere Bank, auf der er wenigstens von Zeit zu Zeit mal ein bisschen Ruhe finden konnte. Bei niemand anderem gelang es ihm, sich zu entspannen und mal ein längeres Weilchen zu schlafen, oft aber auch nicht bei mir.


Natürlich hatten wir vieles probiert. Kinderarzt, Chiropraktik, Ostheopathie, sogar mehrfach. Einiges half wenigstens ein, zwei Tage, anderes gar nicht. Die Kinderärzte sagten, das sei normal, es sei alles in Ordnung und Baby weinen nun mal. Inzwischen lagen unsere nerven nicht mehr nur blank, sie waren schlichtweg nicht mehr vorhanden. Die Knallgrenze (Wie lange dauert es, bis einer ausrastet.) war gen null gesunken und und wir stritten schon bei Kleinigkeiten, die uns sonst nicht mal aufgefallen wären. Und als der Große (mit seinen gut zweieinhalb Jahren ja eigentlich noch lange nicht groß) irgendwann morgens vor mir stand und mit Tränen in den Augen sagte „Mama, da ist immer alles so laut hier“, brach ich ein kleines bisschen zusammen und ich in Tränen aus.
Erschreckenderweise schlug sich das inzwischen auch auf unsere Immunsysteme wieder. Dauerschnupfen, Fieber (ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Fieber hatte!) und Entzündungen am ganzen Körper waren die Folge und ließen sich nur schwer abwehren. Eigentlich ja aber auch kein Wunder bei so wenig Schlaf, kaum vernünftigem Essen und Dauerbeschallung…
Und gab es da einen kleinen Silberstreif am Horizont. Meine Freundin Christin erzählte mir von einem Arzt, auf den sie nach langer Odyssee mit ihrer jüngsten Tochter gestoßen war. Sie musste mir immer wieder davon erzählen, weil ich wieder und wieder hören musste, dass es ihr half und irgendwann traute ich ich und machte einen Termin aus (Völliger Quatsch eigentlich, mich nicht zu trauen, ich hätte das schon viel eher machen sollen. Aber ich hatte schrecklich Angst, dass dieser letzte Joker, den wir noch im Ärmel hatten, nicht funktionierte und es dann gart keine Hoffnung mehr gab…)
Als mein Kleiner etwa zehn Wochen alt war, fuhren wir in Dr. Kochs Praxis für manuelle Therapie am Dammtor. Inzwischen hatten wir von mehreren Leuten gehört, er sei eine absolute Koriphähe auf diesem Gebiet und wenn es da was zu finden gibt, dann findet er es. Scheinbar kommt man nicht um ihn herum, wenn man mit derartigen Problemen kämpft… Wir füllten den langen Anamnesebogen aus und Dr. Koch untersuchte ihn gründlich. Und er fand, was die Ostehopathin ebenfalls wage vermutet hatte – mein Mini hatte das, was auch gerne das KISS Syndrom genannt wird: eine Funktionsstörung in der Wirbelsäule, der erste und zweite Halswirbel waren blockiert. Er löste die Blockade (das klingt alles so einfach und ein bisschen nach Hokus Pokus, ich weiß) und sagte, wir sollen in vier Wochen zur Kontrolle kommen. Bis dahin soll jegliche andere Therapie (Ostheopathie, Chiro, was immer) unterbunden werden. Er sagte auch, dass es möglicherweise eine Erstverschlimmerung gibt und dass es schon so ein bis zwei Wochen dauern könnte, bis es gut ist. Aber er war so unglaublich sicher in seiner Aussage, als gäbe es nur diese eine Möglichkeit: Problem erkannt, Problem gelöst, jetzt wird alles besser. Her mit dem süßen Leben. Fast ein bisschen, als hätte man einen Reifen geflickt und klar, Loch gestopft, Rad fährt wieder.

Wir warteten also ab. Die ersten Tage, Ostern an der Ostsee, waren wunderbar. Mein Kleiner schlief im Kinderwagen, entspannt. Sein kleines Gesichtchen fiel zur anderen, bisher verabscheuten Seite und er hatte die Arme entspannt im rechten Winkel neben seinem Köpfchen abgelegt. Er schlief – zum ersten Mal wieder – wie ein richtiges Baby! Seine „aggressive“ Körperspannung war wie weggeblasen und er fühlte sich so anders an – wie ein richtiges Baby! Auch das mit dem Stillen klappte sofort deutlich besser und so wuchs auch unsere Zuversicht. Dann kam die angekündigte Erstverschlimmerung. Zum Glück waren wir darauf vorbereitet und verzweifelten nicht sofort. Er bog sich doller durch denn je und auch das Weinen wurde wieder mehr. Im Nachhinein ganz klar – die neuen, richtigen Bewegungen mussten natürlich erst erlernt werden und dass plötzlich alles ganz anders ist und sich vor allem auch ganz ungewohnt anfühlt, dass nichts mehr ist, wie es war, kann schon ziemlich beunruhigend sein…


Zwei Wochen später war dann der Spuk aber komplett vorbei. Unfassbar, aber wahr – heute haben wir ein freundliches, fröhliches und entspanntes Baby. Er ist nun gut vier Monate, weint kaum noch (nur müde ist immer noch ein Arsch) und ist mit sich und seiner Umwelt zufrieden. Er lacht mehr, als dass die Tränchen fließen und freut sich über bekannte und neue Gesichter. Er liebt seinen Spielbogen, unter dem er auch gut uns gerne mal 20 Minuten liegen und alleine spielen kann. Er ist auf dem besten Wege, sich zu drehen (auf die Seite klappt schon super) und während ich das hier schreibe, liegt er neben mir in seinem Maxi Cosi, in dem er vorhin eingeschlafen ist. Gerade war er ein paar Minuten wach, hat mir neugierig zugesehen und sich eben zu noch einem Nickerchen hinreißen lassen – er ist einfach wieder eingeschlafen. Ruhig und friedlich und ohne Tränen (die mir schon wieder laufen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für uns bedeutet, ein Baby, dass sich verhält wie ein Baby. Und dabei geht es nicht ums Verhalten, sondern darum, wie es ihm geht. Gut, eben. Es geht ihm gut.)

Letzte Woche Mittwoch war der Kontrolltermin, zu dem wir nach vier Wochen noch einmal kommen sollten. Die Aussichten sind super – seine Wirbelsäule funktioniert 1a und ist tippitoppi in Ordnung. Dr. Koch untersuchte ihn nochmal ganz gründlich (und lachte sich mit ihm zusammen halb tot), bevor er noch eine Blockade im Beckenring feststellte. Die konnte er lösen und ich hoffe, dass sich damit auch die letzen Verdauungsbeschwerden (Krämpfe und Blähungen, vor allem nachts; mir war nicht klar, wie viel Wind sich in so einem kleinen Wesen sammeln kann!) in Luft auflösen. Er war wieder genau so zuversichtlich (ihr erinnert euch an die Sache mit dem Fahrradreifen?) und bat mich, in 14 Tagen anzurufen und zu berichten. Bislang war es wie beim ersten Mal – die ersten Tage waren besser, aktuell stecken wir in dieser Verschlimmerungsphase. Ich bin wirklich gespannt, ob es in ein paar Tagen vorüber ist – ich werde berichten.
Euch allen, denen es genau so geht, möchte ich sagen: haltet durch und sucht weiter. Vielleicht gibt es irgendwo auch einen Dr. Koch für euch, der eurem kleinen Würmchen helfen kann.
Euch allen, denen es nicht so geht: schätzt euch glücklich. Einem zufriedenen Baby beim Wachsen zuzusehen ist das Schönste, was es gibt. Und wenn ihr jemanden kennt, dem es nicht so geht (bzw so ähnlich wie mir) – ihr könnt helfen! Vielleicht könnt ihr mit dem kleinen Schreihals ein bisschen spazieren gehen, im Kinderwagen oder in der Trage (nehmt Kopfhörer oder Oropax mit!), damit sich die Mama oder Eltern mal einen kleinen Moment ausruhen (duschen/essen/Zähne putzen/vorlesen) können. Oder einfach mal schlafen. Kocht der Muddi oder den Eltern ein gesundes, leckeres Essen vor, dass man nur fix aufwärmen muss (und das man idealerweise einhändig oder im Vorbeihopsen essen kann, Reis oder Suppe sind eher ungeeignet). Und hört ihnen zu, wenn sie sich trauen, darüber zu sprechen, nehmt sie ernst (Nichts ist schlimmer als ein „Aber du hast doch Kinder gewollt!“ oder „Babys weinen nun mal.“) und mal in den Arm.
Und Christin, dir bin ich unendlich dankbar. Für dich, deine Nonomo und vor allem fürs Zuhören, Ernst nehmen, deine vielen Tipps, das wiederholte Erzählen (müssen) und die Motivation, endlich zu Dr. Koch zu gehen. Ich danke dir von ganzem Herzen.
Nachtrag: Mamas von Schreibabys, in meinem Podcast „In 15 Minuten aus dem Mamsterrad“ haben meine Freundin und Mama Coach Imke und ich schon mehrfach über das herausfordernde Leben mit einem Schreibaby gesprochen und Ideen geteilt, die helfen können, besser durch diese schwere Zeit zu kommen. Hört doch mal rein – geht auch ganz wunderbar beim Spaziergang mit Kopfhörern!
Liebst,

12 Kommentare
Wichtiges Thema 💔
Bei @annafiederlingdesign findest Du „Auf der Suche nach Herrn Aronson.“ Sehr schöne Geschichte, wunderbar gezeichnet 🐳
Danke dir vielmals, das schau ich mir gerne mal an!
Gemeinsam mit meinen Kindern gehen wir nächste Woche auf eine Beerdigung. Daher suche ich nach hilfreichen Methoden, um ihnen den Umgang mit dem Tod leichter zu machen. Jetzt weiß ich immerhin, dass Bücher dabei helfen, Trauer zu verstehen und daher Fragen beantworten, die man eventuell selber nicht beantworten kann. Ich werde das Buch „Opa, welche Farbe hat der Tod“ kaufen.
Unsere Kinder mussten das erste Mal miterleben wie ein geliebter Mensch von ihnen geht. Es ist gut zu wissen, dass Trauerbücher für Kinder dabei helfen können, mit diesem schwierigen Thema umzugehen. Zeitgleich sind wir noch auf der Suche nach einem zuverlässigen Bestattungsinstitut, das uns in dieser Angelegenheit unterstützt.
Ich bedanke mich für den gut beschriebenen Artikel. Viele Trauerbücher für Kinder habe ich selbst noch gar nicht gekannt. Jetzt bin ich bestens für mein Vorhaben vorbereitet.
Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Meine Ehefrau ist vor kurzem gestorben und mein Enkel hat noch Probleme dieses Ereignis zu verstehen. Ich hoffe, dass die Bestattung nach den Vorstellungen meiner Familie umgesetzt wird und dass mein Enkel den Prozess gut verarbeitet.
Hallo,
vielen lieben Dank euch für diesen großartigen Artikel! Sehr gut recherchiert und informativ. Ich freue mich schon auf weitere Beiträge dieser Art.
Grüße vom Steffen
Mein Vater ist leider von uns gegangen und da haben die Kinder wirklich viele Fragen. Gut, dass das Buch hier helfen kann. Zum Glück haben wir die Bestattung an ein Unternehmen abgegeben, die uns die Zeit für viele andere Dinge freiräumt. So kann ich mich auf meine Kinder konzentrieren.
Danke für diesen schönen Beitrag. Meine ältere Cousine ist vor einiger Zeit verstorben und ihre Kinder, insbesondere der jüngste Sohn, versteht die Situation noch nicht ganz und hat Probleme sich richtig zu verabschieden. Vielleicht ist eins der Bücher eine gute Hilfe.
Wir planen derzeit eine Trauerfeier, zu der viele Kinder kommen werden. Ich überlege, einige der Bücher an die Eltern zu verteilen, um es einfacher für sie zu machen, die Fragen zu klären. Als Kind muss das Ganze wirklich hart sein, da man es nicht wirklich verstehen kann wie Erwachsene.
Vielen Dank für diesen Artikel zum Umgang mit dem Tod. Gut zu wissen, dass es viele Bücher extra für Kinder zu dem Thema gibt. Der Opa meiner Tochter ist verstorben und neben dem Austausch mit dem Bestatter werden ihr solche Bücher bestimmt helfen.
Vielen Dank für diesen Artikel zu Trauerbüchern. Gut zu wissen, dass es für alle Altersgruppen ein Angebot gibt. Ich werde bald mit meinem Sohn auf zwei Bestattungen gehen und werde ihn mit solchen Büchern etwas darauf vorbereiten.